Die Tochter der Kassiererin und der porschefahrende Chirurgensohn
Die LHG Nordrhein-Westfalen will ihre Programmatik zu Studiengebühren überarbeiten. Im Interview erläutert der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Winter sein Konzept vom „Absolventen-Solidarbeitrag“.
An diesem sonnigen Herbsttag zeigt sich die Ruhr-Universität Bochum von ihrer besten Seite. Die Studierenden schlendern über die grauen Waschbetonplatten, die bei jedem zweiten Schritt seltsam klappern. Das sonnengelb angestrichene Hochhaus „GC“ zeugt mit seinen graden, schnörkellosen Linien vom Charme der 60er Jahre.
Professor Stefan Winter, der hier sein Büro hat, empfängt mich freundlich und zuvorkommend. Sein Büro blickt weit über das angrenzende Ruhrtal und bietet einen gesunden Kontrast zum grauen Beton der Uni. Der Wirtschaftswissenschaftler wurde von seinen Studierenden vielfach ausgezeichnet. Davon künden die blau-silbernen Trophäen mit der Aufschrift „Lehrstuhl des Jahres“, die im Foyer mit einem gewissen Stolz aufgestellt sind.
Mit Winter will ich über Studiengebühren reden. Er selber hält die Abschaffung derselben für einen schweren Fehler. Für ihn sind Studiengebühren eine Frage der Gerechtigkeit. Ein Gespräch über kluge Modelle, scheinbare Gallionsfiguren und gute Lehre.
Herr Professor Winter, seit Jahren kämpfen Sie für Studiengebühren. Woher kommt Ihre Motivation?
Die Motivation ist entstanden, weil wir als Fakultäten im Jahr 2006 angefragt wurden, wie wir uns zur Einführung von Studiengebühren stellen würden. Damals habe ich die Rolle für meine Fakultät übernommen, ein Meinungsbild vorzubereiten und mich entsprechend in die Literatur eingelesen. Dabei habe ich festgestellt, dass es auch sehr sozial verträgliche Modelle für Studiengebühren gibt und dass die Einführung eine gute Idee wäre.
Handwerker müssen zum Beispiel ebenfalls ihre Meisterausbildung bezahlen und Piloten ihre Pilotenausbildung. Insbesondere wegen der großen Einkommensvorteile bei Akademikern scheint es mir unter Gerechtigkeitsaspekten angebracht, Akademiker in die Bildungsfinanzierung mit einzubeziehen.
Zur Gerechtigkeitsdebatte kommen wir gleich noch. Beschreiben Sie doch erst das Modell für Studiengebühren, wie Sie es sich vorstellen.
In dem Modell, das mir vorschwebt, würden erst Absolventen bezahlen und nicht Studierende. Die Absolventen würden nach ihrem Studium erst bezahlen, wenn sie eine gewisse Einkommensgrenze überschreiten.
Wie hoch würde diese Grenze sein?
In Australien orientiert man sich am Durchschnittseinkommen der Bevölkerung. Das bedeutet, erst derjenige muss bezahlen, der mehr verdient als das Durchschnittseinkommen. Die Akademiker können sich also sicher sein, dass sie erst zahlen müssen, wenn sie es sich wirklich leisten können.
Kommen wir zur Gerechtigkeitsdebatte. Eine Streitschrift, die Sie verfasst haben, hat den Titel „Die Tochter der Kassiererin und das Abschreckgespenst“. Wer ist diese Tochter?
Die Tochter der Kassiererin ist so eine Gallionsfigur, die in der Debatte immer gerne hoch gehoben wird. Das Argument läuft dann so: Wir dürfen keine Studiengebühren erheben, weil ansonsten nur die Tochter des Arztes studieren kann, aber die Tochter der Kassiererin nicht.
Mit dieser Argumentation habe ich erhebliche Probleme. In allen Bundesländern, die Studiengebühren eingeführt hatten, gab es relativ viele Ausnahmeregelungen. In Teilen der Bevölkerung war gar nicht bekannt, dass die Studierenden, die sich die Gebühren nicht leisten konnten, ohnehin ausgenommen waren. Hinzu kommt, dass nur sieben Bundesländern die Gebühren eingeführt hatten und neun Bundesländer nicht. Jeder der auf Grund von Studiengebühren in einem Land nicht hätte studieren können, hätte in ein anders Land gehen können.
Darum hat es in Deutschland nie irgendeine Tochter der Kassiererin gegeben, die wegen Studiengebühren nicht studieren konnte. Sie wurde aber als Argumentationshilfe genutzt, um Studiengebühren gänzlich abzuschaffen.
Was hatte das für praktische Folgen?
Die Gebühren wurden abgeschafft, um angeblich die Tochter der Kassiererin zu schützen. Der Tochter der Kassiererin ist das aber nie zu Gute gekommen, weil sie sowieso nie bezahlen musste. Wem das ganze wirklich zu Gute gekommen ist, ist den Reichen.
Also war die Abschaffung der Studiengebühren sozial ungerecht?
Ja, definitiv. Ich finde das hochgradig problematisch. Dank des Argumentes, Studiengebühren seien sozial ungerecht, müssen jetzt Kinder von Milliardären keine Studiengebühren mehr bezahlen. Das ist für mich derart hanebüchen, dass ich mich dagegen explizit verwehre.
Ein Liberaler, Lord Dahrendorf, hat Bildung einmal als Bürgerrecht bezeichnet. Sollen Studierende etwa für ein verbrieftes Recht zahlen?
Tatsächlich steht auch in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen: „Bildung ist ein Menschenrecht“. Aber der Menschenrechtscharakter hat doch nichts mit der Finanzierungsfrage zu tun. Offensichtlich ist ja nicht nur Bildung ein Menschenrecht, sondern – wie die Erklärung weiter ausführt – auch Nahrung, Kleidung und Wohnraum.
Wenn ein Studium aus Steuermitteln bezahlt werden muss, weil Bildung ein Menschenrecht ist, dann müssten auch Schuhe, Wohnung und Currywürsten aus Steuermitteln finanziert werden. Dass tun wir aber nicht für jeden, sondern nur für Bedürftige. Den porschefahrenden Chirurgensohn brauchen wir daher ganz sicher auch aus Menschenrechtsgründen nicht zu unterstützen.
„Die Tochter der Kassiererin“. In diesem Lehrvideo der Ruhr-Universität Bochum widerlegt Winter Argumente gegen die Studiengebühren.
Sie haben schon auf Australien verwiesen. Warum ist es der Regierung dort gelungen, Studiengebühren einzuführen, aber so vielen Landesregierungen in Deutschland nicht?
Die Australier haben in der Debatte zwei große Fehler vermieden, die wir hier gemacht haben. Zum einen haben sie die Reihenfolge der Argumente anders aufgeführt. In Australien hat man erstmal über Einkommen geredet. Man hat sich angeschaut, was verdienen Akademiker, was verdienen Nicht-Akademiker. Dabei kam heraus, dass dort dasselbe passiert, wie überall auf der Welt, nämlich dass Akademiker im Durchschnitt deutlich mehr verdienen.
Um Ihnen ein Beispiel zu nennen, in Deutschland schätzt man, dass der Lebenseinkommensvorteil von Akademikern im Durchschnitt bei etwa einer Million Euro liegt. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass Akademiker eine ganze Reihe von weiteren Vorteilen haben, wie ein deutlich geringeres Arbeitslosenrisiko oder eine höhere Lebenserwartung dank besserer ärztlicher Versorgung. Wenn wir mit der Debatte so angefangen hätten, wäre die Zustimmung für Studiengebühren sicherlich größer gewesen.
Was war der zweite Fehler in Deutschland?
Die Landesregierungen haben ein Gebührenmodell gewählt, das die Studierenden schon während ihres Studiums belastet. Es ist ein unsinniges Modell, weil Studierende in der Tat wenig Geld haben. Menschen zu belasten, die wenig Geld haben, ist per se dumm. Denn es führt zu Ausweichreaktionen.
Empirisch konnten wir zwar nicht sehen, dass die Zahl der Studienanfänger relevant zurückging. Der Effekt, den ich aber durchaus merklich fand, war, dass die Studierenden mehr arbeiten mussten und sich weniger auf ihr Studium konzentrieren konnten. Wenn dadurch das Studium ein Jahr länger dauert, fehlt eben ein Jahr Lebenseinkommen. Und das ist viel, viel teurer. Die Kollateralschäden des Gebührenmodells waren höher als die Einnahmen.
In der FDP-Fraktion hält man das Wort „Studiengebühren“ für „unsexy“. Sie schlagen ja ein völlig neues Konzept vor, haben Sie auch einen neuen Begriff?
Ich möchte das Wort Absolventen-Solidarbeitrag vorschlagen. So wird deutlich, dass erst die Absolventen nach ihrem Studium bezahlen sollen und zwar, weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben.
Wollen Sie abschließend Ihr Gebührenmodell mal an einem Beispiel durchrechnen?
Gerne, nehmen Sie doch mich. Als Professor liegt mein Lebenseinkommen ungefähr 2,5 Millionen Euro höher als das Durchschnittseinkommen der deutschen Bevölkerung. Mein Studium dürfte ungefähr 15.000 Euro gekostet haben. Für mich ist es ein persönliches Anliegen, mich an meine eigene Regel zu halten.
Ich bezahle meine Studiengebühren, freiwillig, weil es diese Gebühren ja eigentlich nicht gibt. Ich überweise also einmal im Monat 100 Euro an meine alte Universität in Hannover. Bis zur Pensionierung werde ich dann ungefähr 25.000 Euro bezahlt haben, damit ist mein Studium inklusive Inflationsausgleich komplett selbst bezahlt. Bisher habe ich noch niemanden getroffen, der das sozial ungerecht fand.
Die Studierendenschaft der Ruhr-Universität Bochum hat sie vielfach mit dem Preis „Lehrstuhl des Jahres“ ausgezeichnet. Wofür würden Sie die neuen Geldmittel nutzen, um die Lehre weiter zu verbessern?
Nun, wenn man sich ansieht, dass an meiner Fakultät etwa 200 Studierende auf einen Hochschullehrer kommen, dann kann sich ja jeder selbst ausrechnen, wie viel individuelle Betreuung da noch möglich ist. Wir verlieren sicherlich 100 Studierende pro Jahr allein deshalb, weil wir keine intensivere individuelle Betreuung anbieten. Die aus dem Abbruch resultierenden Einkommensverluste sind bereits dramatisch höher als alle Gebühren wären, die ich mir ausdenken könnte.
Das gebührenfreie Studium ist eben keineswegs kostenlos zu haben, es kostet viel Geld dadurch, dass die Qualität weit hinter dem zurückbleibt, was möglich wäre. Die durch die Unterfinanzierung erzeugten Einkommensverluste wegen schlechterer Ausbildung schädigen unsere Studierenden und damit unser Land in enormem Umfang.
Eine lange Vorbemerkung, ich weiß! Meine Antwort lautet: Mehr Personal einstellen, damit individueller Kontakt von Lernenden und Lehrenden wieder zum Normalfall wird. Damit individuelles Eingehen auf Stärken und Schwächen wieder zum Normalfall wird. Damit dem Trend zur Universität als Sammlung von Videoclips mit Vorlesungsaufzeichnungen wieder eine echte Bildungsinstitution entgegengestellt wird.
Aber Ihre Studierenden scheinen Ihre Lehre ja doch zu mögen?
Ich kann nicht für meine Studierenden sprechen, aber es scheint so zu sein [lächelt].
Herr Winter, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Simon Hartmann