Meinung: Abitur und Handwerk, passt das?
Zu selten entscheiden sich Abiturienten dafür, eine Ausbildung im Handwerk aufzunehmen. Das meint der Bäckermeister Jörg von Polheim. Das gewandelte Handwerk biete gerade angehenden Führungskräften gute Chancen. Kommentar von Jörg von Polheim
Wer die Schule mit Abitur beendet, denkt selten daran, eine Ausbildung zu beginnen. Schließlich hat man zwölf Jahre gelernt und wurde auf ein Studium vorbereitet. Auch für viele Eltern ist solch ein Schritt undenkbar: Nach zwölf Jahren Schule „nur“ eine Ausbildung beginnen? Also wirklich, das geht nicht! Bestärkt wird man darin von vielen Lehrern, die die Universität als logische Folge des Gymnasiums sehen.
Das Handwerk hat sich verändert
Als erstes sollten wir uns von dem althergebrachten Bild des Handwerks trennen. Meister Eder ist im Fernsehen nett anzusehen, aber er entspricht nicht mehr der Wirklichkeit. Das Handwerk wirbt gerne mit dem Slogan „Deutschlands vielseitigster Wirtschaftszweig“. Es gibt im Handwerk ca. 150 verschiedene Berufe. Hier finden fast fünf Millionen Menschen eine Beschäftigung. Aktuell werden ca. 500.000 junge Erwachsene in einer Million Betrieben ausgebildet. Die klassische Ausbildung führt nach drei Jahren zu dem Abschluss einer Gesellenprüfung, nach der nötigen Vorbereitungszeit kann eine Meisterprüfung angeschlossen werden.
Die Berufsbilder im Handwerk haben sich jedoch stark verändert. Der KFZ-Mechaniker von früher ist mit dem heutigen KFZ-Mechatroniker kaum noch zu vergleichen. Schließlich hat der Golf GTI heute auch nicht mehr viel mit einem Käfer aus dem Jahr 1960 gemein. Auch der Beruf des Orthopädietechnik-Mechaniker spiegelt diese Entwicklung wider. Diese Gesundheitshandwerker fertigen heute Prothesen an, die über Nervenenden und Sensoren gesteuert werden. Die Orthopädietechnik bildet damit die Schnittstelle zwischen Medizin, Technik und Handwerk.
Betriebswirtschaftslehre wird immer wichtiger
Neben den Berufsbildern haben sich auch die Strukturen im Handwerk verändert. Viele Bäckereien haben mittlerweile mehr als 20 Verkaufsstellen und über 250 Beschäftigte. Führungskräfte müssen daher zusätzliche Kenntnisse erwerben.
Die Handwerksordnung sieht daher eine Fortbildung zum „Geprüften Betriebswirt“ vor. Die Absolventen sollen befähigt werden, ein Unternehmen nachhaltig, eigenständig und verantwortlich zu führen. Dabei gilt es etwa markbezogene Prozesse im Unternehmen verstehen zu können, aber auch die gesamtwirtschaftliche Lage richtig zu bewerten. Mit dieser Fortbildung ist man für Führungsaufgaben auch in größeren Handwerksbetrieben gut qualifiziert.
Das „triale Studium“ bildet Führungskräfte aus
Für leistungsstarke Abiturienten eignet sich hervorragend eine recht neue Ausbildungsform, das „triale Studium“. Hierbei durchläuft der Studierende die Ausbildung zum Gesellen, die Weiterbildung zum Handwerksmeister und das betriebswirtschaftliche Bachelor-Studium „Handwerksmanagement“. Nach fünf Jahren hat er die drei anerkannten Abschlüsse Gesellenbrief, Meisterbrief und „Bachelor of Arts“ in Händen. Dadurch sind gute Voraussetzungen gegeben, um schon früh Führungsaufgaben in kleinen und mittelständischen Betrieben zu übernehmen. Das triale Studium ist in 19 Handwerksberufen etwa für den Augenoptiker, den Bäcker oder den Zahntechniker möglich.
Das moderne Handwerk bietet leistungsstarken Abiturienten auch ohne klassisches Studium gute Berufsaussichten und schnelle Aufstiegschancen in Führungspositionen. Abitur und Handwerk – das passt!
Die hier veröffentlichte Meinung spiegelt nicht unbedingt die Beschlusslage der LHG Nordrhein-Westfalens wider. Die Redaktion stellt den Autoren frei, welche Form der geschlechtergerechten Sprache sie verwenden möchten. (Red.)
Zur Person
Jörg von Polheim ist Bäckermeister und Diplom-Ingenieur. Seine Handwerks-Ausbildung im väterlichen Betrieb absolvierte er parallel zum Studium an der Uni Wuppertal. Gemeinsam mit anderen Engagierten hat von Pohlheim die Initiative „Liberale Handwerker“ als Vorfeldorganisation der FDP gegründet.